18.12.2017

Lehrplan 21

Bürde oder Höhenflug?

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Schade, dass er zum Politikum geworden ist, der Lehrplan 21. Denn wenn etwas erst einmal ein Politikum ist, lässt sich darüber fast nur noch in den Kategorien «Dafür» oder «Dagegen» streiten und urteilen. Ja oder Nein – das ist die binäre Beschlusslogik der Politik. Eins oder Null. Allenfalls Lehrplan 21 Bürde oder Höhenflug? kommt noch ein Gegenvorschlag in Frage oder eine mit einer Vorlage verknüpfte zweite Vorlage. Aber auch dort gibt es dann jeweils wieder bloss Ja oder Nein; Eins oder Null. Basta! Der ehemalige basellandschaftliche Erziehungsdirektor Peter Schmid formulierte wohl nicht zuletzt deshalb: «Der Lehrplan 21 hat mehr Kritiker als Leser.»

Ein Lehrplan wird nie eine populäre Lektüre werden. Das ist auch beim 21er nicht die primäre Aufgabe. Aber selbst bei grossem professionellem Wohlwollen kostet es einiges an Überwindung, um in dessen eigenartige Kompetenzlyrik hineinzufinden. Da wird man konfrontiert mit Sätzen der Art: «Die Schülerinnen und Schüler können darüber nachdenken, wie sie einen Hörtext, Film oder Redebeitrag verstanden haben und welche Informationen für ihr Ziel besonders relevant sind.» – Einigermassen inhaltsleer, würde ich sagen. Auch die viel gelobte Kompetenz lässt sich hier nur schwer ermitteln: Woran erkenne ich, dass die Schülerin genau darüber – und über nichts anderes – nachdenkt?

Aber es ist wahrscheinlich unfair, eine mehr zufällig herausgepickte als für den eigenen Unterricht gezielt ausgewählte Kompetenzformulierung zum Gegenstand kritischer Betrachtung zu machen. Dennoch: Die zitierte Kompetenz steht in ihrer Inhaltslosigkeit bei weitem nicht allein da. Denn das ist eine Tendenz dieses Wunderwerks: Die Methode kommt zuerst, Inhalte dazu … na ja, da gibt es eine gewisse Beliebigkeit. Also z. B.: «Die Schülerinnen und Schüler können eine Präsentation mit geeigneten sprachlichen Mitteln (z. B. rhetorische Frage, Wiederholungen, Stimme) und angemessenem Medieneinsatz gestalten.»

Die meisten Formulierungen gruppieren sich um das inflationär gebrauchte Modalverb «können». So etwas zu lesen, ist hartes Brot. Da muss die Schule schon sehr gut aufpassen, dass nicht auch die Ver- bzw. Bearbeitung davon zum harten Brot wird. Weder für Lernende noch Lehrende.

Zur Quantität: Die schiere Menge an Kompetenzformulierungen kann einen erschlagen. 363 Kompetenzen (ursprünglich 453) in 2304 Abstufungen ergeben eine Downloadgrösse von sage und schreibe 47,9 MB. (Mein erster Laptop hatte damals in den 90er-Jahren eine Festplatte von 40 MB.) In Papierform verbraucht der Lehrplan 21 bei doppelseitigem Ausdruck ein halbes Pack Papier: 496 Seiten!

Man kann gegen dieses Werk sein. Nützt aber nichts: Der Lehrplan 21 kommt trotzdem. Manche Kantone haben das Wahlvolk befragt und Zustimmung erhalten, in der binären Beschlusslogik. Es muss also eine Menge Pro-Argumente geben, denn immerhin kann man Mehrheiten gewinnen. Wie hat es Professor Roland Reichenbach anlässlich unserer Jubiläumsfeier zum zehnjährigen Bestehen der Theri-Sek formuliert? «Mehrheit ist nicht Wahrheit.» Aber den Lehrplan – ob geliebt oder verachtet – haben wir nun mal. Darüber kann man trefflich lamentieren und jammern. Und wer jammert, ist bekanntlich nie allein. Man könnte aber auch etwas daraus zu machen versuchen. Ich kann mich in der Kompetenzfrage weder zu einem Ja noch zu einem Nein durchringen. Niemand kann letztlich ernsthaft etwas gegen Kompetenzen haben. Es wird hier allerdings übertrieben, wenn alles und jedes in dasselbe Korsett gesteckt wird. Der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein schreibt in seinem Tractatus logico-philosophicus: «Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.» – Es ist eine armselige Welt, in der man fast ausschliesslich «können» muss. Man müsste in einer Schule doch eigentlich auch probieren, herausfordern, erkunden, wissen, forschen, zeichnen, erkennen, bewegen, blödeln, streiten, sich ärgern, sich ausdrücken, schreien, lachen, singen usw. Das alles muss man einfach tun. – Nicht «können».

Wie erwähnt, hat der Lehrplan 21 auch seine guten Seiten: Fertigkeiten (Neudeutsch: Skills) werden gelehrt. Damit soll die Sache sichtbar, beobachtbar werden. Man kann dann sehen, was herauskommt am Ende des Lernprozesses. Zweifellos gibt das den Unterrichtenden Ideen und sorgt hoffentlich auch für Abwechslung im Lehrund Lernbetrieb sowie bei dessen Darstellung. Ergebnisse werden plastischer herausgearbeitet. Nur darf die Methode nicht Überhand nehmen gegenüber dem Inhalt. Manche fantastische Power- Point-Präsentation macht respektheischenden Eindruck, bleibt inhaltlich jedoch auf höchst bescheidenem Niveau. Wenn jemand in der achten Klasse präsentationstechnisch höchst versiert aufzeigt, dass man 2⁄4 zu ½ kürzen kann, vollbringt er möglicherweise eine Meisterleistung in Sachen Inszenierung, bleibt aber fachlich um mindestens drei Jahre hinter seinen eigentlich relevanten Lerninhalten zurück.

Dem Lehrplan 21 wird auch vorgeworfen, ein Instrument zu sein, das Schulen quasi nötige, der Wirtschaft flexibles, anpassungsfähiges, also willfähriges Personal zu liefern und den Bildungsbürokraten dank der Output-Orientierung (PISA lässt grüssen...) willkommenes Steuerungswissen zur Verfügung zu stellen. Dazu sei bemerkt, dass die Schule wohl immer schon die Aufgabe hatte, auf das Leben danach vorzubereiten. Dieses Leben danach jedoch auch als das richtige Leben zu bezeichnen, halte ich für vermessen. Ich bin mit Hannah Arendt der Meinung, dass die Schule zwischen behüteter Kindheit und Erwachsenenleben eine eigene Epoche im Leben der Menschen sein soll. Eine Epoche, die den Kindern resp. den Jugendlichen die Welt auf eine relativ geschützte Art und Weise erklärt und näherbringt, und gleichzeitig die Welt davor schützt, von den heranwachsenden, künftigen Bewohnern und Bewirtschaftern missbraucht zu werden. Also: Anschlussfähigkeit und Kompetenz in Ehren, aber das sind, bei diesem Licht betrachtet, längst nicht die einzigen Aufgaben der Schule.

Letztlich geht es darum, was eine Lehrperson aus der Planvorgabe macht. Exzellente Lehrpersonen verfügen über so etwas wie ansteckende Gesundheit. Sie leben für ihre Schülerinnen und Schüler, und sie lieben ihre Fächer. Da kann keine Bildungsbürokratur etwas daran ändern. So ähnlich wie mit den guten Schülerinnen und Schülern, die in jedem Schulsystem lernen können, ist es auch bei den Lehrerinnen und Lehrern: die guten kommen mit jedem Lehrplan zurecht. Am besten, indem sie ihr inneres Feuer bewahren und die Liebe zu ihrem Beruf fortwährend hegen und pflegen. Da spielt der Lehrplan eine eher untergeordnete Rolle.

Ob nun Kompetenzen das Richtige sind, kann man mit gleicher Vehemenz und Inbrunst bezweifeln oder befürworten. Mit Inhalten gefüllt werden müssen sie auf jeden Fall. Da kommt niemand drum herum. Denn niemand lernt und niemand lehrt nur die Verpackung (Tara). Der Stoff, die Inhalte gehören dazu (Netto). Wenn ich am Ende des Lernprozesses die Kompetenz habe, etwas zu tun, aber ich tue es nicht, was nützt sie dann, diese Kompetenz? Erst in der Performanz (Brutto), also in der Ausführung, zeigt sie sich. Nur wer etwas tut, zeigt, was er kann. – Und was, bitteschön, ist daran neu?

Den Privatschulen gestattet der Erziehungsrat des Kantons Schwyz sich lediglich an den Lehrplan 21 anzulehnen. Wir müssen somit einfach die Anschlussfähigkeit unserer Schülerinnen gewährleisten. Das ist für uns ja auch nicht gerade neu. Ebenfalls entfällt die Pflicht zur Datengenerierung via Stellwerk-Test. Diese existiert lediglich noch als Empfehlung. Das bedeutet für uns an der Sekundarschule des Theresianums, dass wir die Art der internen Evaluation frei wählen können und nicht mehr an Stellwerk gebunden sind. Anders gesagt: Wir können für die Schülerinnen je nach Bedarf individuelle Testformate suchen. Das kann durchaus weiterhin Stellwerk sein; aber auch andere kommen in Frage, etwa Multicheck oder Basic-Check. Für uns als Lehrpersonen bieten sich die evidenzbasierten Methoden der Unterrichtsdiagnostik der Universität Koblenz Landau an. Schauen Sie mal nach unter www.unterrichtsdiagnostik.de. Wir werden sozusagen unsere Qualitätskontrolle auf eigene Beine stellen können. Auch das war früher schon mal so.

Da fällt mir zu guter Letzt ein Spruch ein, den ich in meiner Heimat, im Berner Oberland, einmal an einem alten Haus gelesen habe: «Lasst uns am Alten, so es gut ist, halten.» Ich ergänze dazu: «Und uns am Neuen, so es brauchbar, freuen.» Den Rest stellen wir wie so manche Lehrerinnen- und Lehrergeneration vor uns im Lehrerzimmer ins Büchergestell – und lassen ihn verstauben.

Autor: Ernst Gasser