Annette Windlin zu Besuch auf der Bühne im Theresianum
Friedrich Dürrenmatts Tragikomödie «Der Besuch der alten Dame» (1956) ist ein Stück, das sich hartnäckig in das kulturelle Gedächtnis eingebrannt hat. Doch was macht es über sieben Jahrzehnte nach seiner Uraufführung so unvergänglich? Die Antwort liegt nicht nur in der scharfsinnigen
, sondern auch in seiner beunruhigenden Aktualität. Dürrenmatt entlarvt darin die Mechanismen von Schuld, Gier und kollektiver Verdrängung – Themen, die heute dringlicher klingen denn je. Ob in der Politik, der Wirtschaft oder im privaten Miteinander: Die Frage, wie weit wir für materiellen Gewinn über moralische Grenzen gehen, stellt sich immer wieder neu.Bild oben: Melanie Schmidlin führt in den Abend ein
Kultur Brunnen bringt Annette Windlins Fassung der alten Dame auf die Theresianum-Bühne. Vor fast ausverkauftem Haus hebt Claire ihren Hutschleier und die Geschichte nimmt auf tragikomische Weise ihren Lauf, so, dass den Zuschauenden immer wieder der Atem stockt.
Annette Windlin inszeniert Dürrenmatts Werk nicht als historisches Stück, sondern als schonungslosen Spiegel der Gegenwart. Ihr markantester Eingriff: Sie verdichtet die gesamte Handlung auf lediglich zwei Schauspielende, die alle Rollen übernehmen – von Claire Zachanassian bis zu den Bürgern von Güllen. Diese radikale Reduktion entlarvt die Figuren nicht als individuelle Charaktere, sondern als Facetten ein und derselben zerrissenen Seele. Plötzlich wird deutlich: Die Abgründe, die Dürrenmatt beschreibt – Gier, Schuld, Verdrängung –, sind keine äusseren Konflikte, sie sind innere Kämpfe.
Windlin verzichtet auf moralische Eindeutigkeit. Ihre Claire ist keine blosse Rächerin, sondern eine von Trauma Gezeichnete, deren Wut in einer Welt wächst, die ihr keine Gerechtigkeit liess. Und die Bürger? Sie sind weder einfache Mitläufer noch zynische Profiteure, sondern Gefangene eines Systems, das ihnen Wahlfreiheit nur vortäuscht. Besonders wirksam wird dies in den Pausen und Blicken: Die Stille zwischen den Rollenwechseln wird zum Echo unausgesprochener Abgründe, die in jedem von uns brodeln.
Dürrenmatts Werk bleibt nicht deshalb relevant, weil es eine ferne Warnung ist, sondern weil es ein Spiegel innerer Widersprüche bleibt. Windlins Inszenierung unterstreicht das auf eindringliche Weise: Ihre alte Dame kommt nicht, um Rache zu üben, sondern um daran zu erinnern, dass wir - bleibt Reflexion und Bewusstheit aus - Komplizen bleiben.
Wenige Requisiten, kein überladenes Bühnenbild – stattdessen eine Lichtführung, die zum zentralen Erzählinstrument wird. Die von Christian Wallner produzierten Soundeffekte und Liedfragmente unterstreichen dabei die psychologischen Unterströmungen.
Das Publikum beantwortet die Performance mit tosendem Applaus und Standing Ovations.